Harro Kiendl

Grundsatzfragen

Es gibt Lebensbereiche, in denen mathematische Methoden ein nahezu perfektes Verständnis und eine präzise Steuerung ermöglichen. So etwa in der Himmelsmechanik: Das verblüffend einfache Gravitationsgesetz macht die Bewegungen von Himmelskörpern verständlich - und erlaubt es uns, Raumsonden punktgenau durch das Weltall zu navigieren.

Anders sieht es in vielen Bereichen unseres Alltags aus, die von Sprache geprägt sind. In der industriellen Praxis beispielsweise tauschen Bediener technischer Anlagen ihre Erfahrungen in Worten aus - oft unter Verwendung vager Begriffe wie "ziemlich" oder "langsam". Begriffe, deren Bedeutung unscharf bleibt und dennoch verstanden wird.

An dieser Stelle setzt die Fuzzy-Technologie an. Sie bildet eine Brücke zwischen der exakten Welt mathematischer Formeln und der oft vagen Welt der natürlichen Sprache.

Doch es gibt noch eine weitere Dimension menschlicher Erfahrung - jene der Grundsatzfragen. Sie entziehen sich sowohl mathematischer Berechenbarkeit als auch sprachlicher Eindeutigkeit. Gedanken und Empfindungen zu diesen Fragen werden meist in Worten ausgedrückt, deren Bedeutung umso diffuser erscheint, je tiefer man über sie nachdenkt.

Solche Diskussionen haben mich immer fasziniert. Meine nachfolgenden Überlegungen hierzu sind in der Zeitschrift diesseits erschienen, (31. Jahrgang, Nr.119, 2/2017, S. 43 > Download < sowie in ihrer Online-Ausgabe vom 2. Juli 2025 > Link < mit freundlicher Genehmigung der Redaktion).

 


 

Wörter

Was ist „natürlich“?
Was „übernatürlich“ –
über die Natur hinaus?

Beide Wörter hat der Mensch gemacht.
Ohne sie wäre die Welt
als eine Einheit zu sehen.

Aber diese Wörter sind da,
haben der Sicht eine Grenze auferlegt,
die die Welt in zwei Teile zerlegt.

Nun stehen wir da, rätseln,
was wohl hinter der Grenze liegt,
und vergessen, dass die Mauer
doch nur ein Geschöpf unseres Denkens ist.

So wie das Wort Gott.
Gäbe es nicht dieses Wort,
dann wäre darüber auch kein Streit.
Nichts wäre zu beweisen, zu bezweifeln,
oder zu glauben.

Doch es fände sich wohl alsbald
ein anderes berührendes Wort.
Und es bliebe alles beim Alten.

Wörter lösen Probleme,
schaffen sie aber auch.
Auch diese.

 



Glaube und Wissenschaft

Benita hat einen Glauben.
Sie erlebt ihn als etwas Reales,
doch wie viel davon ist wahr?
Das weiß sie nicht -
und es berührt sie nicht.
Denn sie sieht, was der Glaube bewirkt.
Das ist ihre Wahrheit,
ihre Wirklichkeit des Glaubens.
 
Ben hingegen glaubt nicht.
Er versteht sich als Humanist
und aufgeklärter Anhänger der Wissenschaft.
Besonders fasziniert ihn die Physik,
denn sie strebt danach,
das gesamte Geschehen
mit wenigen Naturgesetzen zu erklären.
 
Auch Benissimo dachte anfangs so.
Bis er auf Karl Popper stieß.
Dessen Lehre lautet:
In der Physik kann man nie sicher sein,
einen universell gültigen Zusammenhang
- ein Naturgesetz - gefunden zu haben.
Jede Erkenntnis bleibt Hypothese.
 
Wurde eine Hypothese bislang
durch kein Experiment widerlegt,
so bedeutet das keineswegs,
dass dies für alle Zukunft ausgeschlossen ist.
Man kann also niemals beweisen,
dass eine Hypothese
ein unumstößliches Naturgesetz ist.
 
Benissimo zieht daraus einen Schluss:
Dass wir Hypothesen, die sich bislang bewährt haben,
gern zu Gesetzen erheben,
beruht nicht zuletzt auf - Glauben!
Überraschungen bleiben stets möglich.
 
Wie tief also sind die Gräben
zwischen den Welten von Glauben und Wissenschaft?
Vielleicht nicht so tief, wie oft behauptet.
Brücken lassen sich bauen.
Und wer sie überquert, findet womöglich
eine neue Antwort auf die alte Gretchenfrage:
 
Wo, in welcher Welt,
fühle ich mich besser aufgehoben?